Ein WM-Boykott als starkes Signal

Zum Thema #boycottqatar habe ich mit der Politologin Dr. Leonie Holthaus folgendes Interview geführt :

In einem Beitrag für das Magazin ‚zeitschrift für menschenrechte‘ sind Sie 2016 mit Bezug auf das ‚Spiralmodell‘ zu dem Ergebnis gekommen, dass der „Fußball allein (…) wenig an der in Katar praktizierten modernen Sklaverei ändern“ wird. Bitte erläutern Sie uns zunächst kurz, wie das Spiralmodell zu verstehen ist.

Das Spiralmodell wurde entwickelt, um Prozesse der Menschenrechtsnormanerkennung in autokratischen Staaten zu analysieren. Es geht davon aus, dass es eine lokale Opposition oder StaatsbürgerInnen gibt, die unter Repression leidet. Eine weitere Annahme ist, dass es eine Verbindung lokal und transnational agierender AkteurInnen braucht, um den Druck auf autokratische Regime aufzubauen, der zu Menschenrechtsnormanerkennung führt. Dieser Prozess der Menschenrechtsanerkennung wird in unterschiedliche Phasen eingeteilt. Einfach gesprochen stehen Menschenrechtsverletzungen am Anfang. In Phase zwei werden sie z.B. von Menschenrechtsgruppen angeklagt. In Phase drei reagiert der repressive Staat taktisch auf die Anklagen, während transnationale Menschenrechtsnetzwerke eine sich bildende lokale Opposition gegen Menschenrechtsverletzungen unterstützen. In Phase vier erkennt der Staat Menschenrechtsnormen an, und in Phase fünf institutionalisiert er nationales Recht, um Menschenrechtsverletzungen zu ahnden.

Mit Blick auf Katar ist dabei zu bemerken, dass eine von Menschenrechtsverletzungen betroffene Opposition, bzw. Menschenrechtsorganisationen mit nennenswertem Handlungsspielraum kaum gegeben sind. Auch wenn Frauenrechte hier wie in anderen Golfstaaten massiv verletzt werden, sind ArbeitsmigrantInnen die Hauptleidtragenden der rassistischen Ökonomie. Die als notwendig erachtete Verbindung von transnationalem und lokalem Aktivismus, die zu Menschenrechtsnormanerkennung führen soll, ist somit nicht oder kaum gegeben. Auch wenn es während des sogenannten arabischen Frühlings demokratischen Protest am Golf gab, so wurde dieser vielmehr in Bahrain organisiert – und niedergeschlagen.

2016 attestierten Sie dem katarischen Regime lediglich taktisch auf Proteste zu reagieren, weil keine lokalen AkteurInnen Veränderungen einforderten. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation in Katar ein?

Auch wenn über einzelne Verbesserungen speziell auf den Baustellen der WM-Stadien berichtet wird, halte ich nennenswerte und nachhaltige Verbesserungen in den Arbeitsbedingungen für unwahrscheinlich. Gleichfalls sehe ich weiterhin ein eher taktisches Verhalten seitens des Regimes. Man muss allerdings dazu sagen, dass es sehr schwer ist, belastbare Zahlen z.B. zu den Todesopfern auf den Baustellen zu erhalten, auch wenn The Guardian, Gewerkschaften und die Internationale Arbeitsorganisation sehr gute Studien veröffentlichen.

Eine wiederholt zu hörende Argumentation (beispielsweise von Sylvia Schenk für Tranparency International Deutschland) geht so, dass nur durch die Austragung der WM ein positiver Einfluss auf die Situation der ArbeitsmigrantInnen in Katar erzielt werden kann. Welchen Einfluss hätte aus Ihrer Sicht die Austragung der WM auf die Situation der ArbeitsmigrantInnen in Katar?

Hier ist das besondere Herrschaftssystem der Golfmonarchien zu beachten. Sie sind neo-traditionelle Regime. Das heißt, die Regime erfinden Traditionen, die es dann zu bewahren gilt, und versuchen sich gleichzeitig durch wirtschaftliche Öffnungen und Leistungen, selektive Beiträge zu internationalen Organisationen usw. in den Augen der lokalen Bevölkerung zu legitimieren. Basis der Wirtschaften ist allerdings die Ausbeutung der ArbeitsmigrantInnen. Ich würde vermuten, dass eine WM in Katar Möglichkeit bietet, Bilder zur Legitimierung der neo-traditionellen Regime zu produzieren.

In Katar gibt es eine Reihe weiterer universeller Menschenrechte (u.a. Frauenrechte, sexuelle Vielfalt, Pressefreiheit), die nicht beachtet werden. Welche Auswirkungen wären hier aufgrund der WM-Austragung zu erwarten?

Es kann sein, dass es im Zeitraum des Events zu einzelnen Verbesserungen kommt, die dann wieder zurückgenommen werden. Ich würde nicht von einem linearen Fortschritt in allen Menschenrechten ausgehen.

Ein Boykott würde eher die „Beharrungskräfte in Katar stärken“, so Schenk. Welcher Effekt wäre aus Ihrer Sicht bei einem erfolgreichen Boykott der Fußball-WM unmittelbar für Katar, aber auch für die Ausrichtung vergleichbarer künftiger sportlicher Großveranstaltungen zu erwarten?

Wie gesagt, berücksichtigt man den neo-traditionellen Herrschaftstypus, so wird auch die Austragung der WM den Beharrungskräften dienlich sein können. Ein gut begründeter und kommunizierter Boykott könnte ein starkes Signal senden.