Daniel Cohn-Bendit: Biografie einer „Super-Diva“

Es ist eine charmante Idee, sein Leben angekoppelt an die Geschichte des Fußballs zu beschreiben. In „Unter den Stollen der Strand“ unternimmt der 1945 geborene Daniel Cohn-Bendit einen entsprechenden Versuch. Die Voraussetzungen hierfür sind bestens: Cohn-Bendits bewegte und spannende Biografie verbunden mit dem Marsch durch die Institutionen einerseits, die Entwicklung des Fußballs aus den 1950er Jahren bis hin zum durchkapitalisierten TV-Sport andererseits.

Cohn-Bendit wurde im französischen Montabaun geboren, wohin es seine jüdischen Eltern auf der Flucht aus Deutschland vor den Nazis letztendlich verschlagen hatte. Drei Jahre später, nach dem Umzug der Familie nach Paris, entdeckte er sein Herz für den Fußball, zunächst für Racing Club de Paris und Stade Français später für die ungarische Nationalmannschaft. Als die 1954 gegen die deutsche Elf im WM-Endspiel unterlag, war Cohn-Bendit, der das Spiel am Radio verfolgte, „am Boden zerstört“. Nicht nur, weil er das Ergebnis als ungerecht empfand, sondern auch, weil er „grundsätzlich“ gegen ein deutsches Team war. Nachvollziehbar, doch leider ist ihm in der Begründung ein Fehler unterlaufen, denn er führte das Mitwirken von Sepp Herberger, Fritz Walter und Helmuth Rahn als Repräsentanten des Nazifußballs dazu an. Doch der 1929 geborene „Boss“ kam erst 1951 zu seinem ersten Länderspiel.

Im Laufe der Jahrzehnte hat sich an dieser Grundeinstellung wenig geändert, doch es ist eine gewisse Ambivalenz hinzugekommen. Verantwortlich hierfür sind zwei Dinge: Das Spiel der deutschen Elf des Jahres 1972, als sie mit herausragender Spielweise Europameister wurde, und insbesondere der von ihm sehr geschätzte Günter Netzer. Der zweite Grund liegt in dem „faschistoiden Hypernationalismus“ mancher Länder (er nennt exemplarisch Kroatien, Serbien, Russland, Polen und Ungarn), den er einfach nur „zum Kotzen finde(t)“. Diesen Teams könnte er in Spielen gegen eine deutsche Mannschaft kaum die Daumen drücken.

Cohn-Bendit, der mittlerweile seit vielen Jahren in Frankfurt lebt und Fan der Eintracht geworden ist, identifiziert sich in erster Linie mit Vereinen des „Proletariats“, so zum Beispiel dem AS St.-Étienne. Ebenfalls wichtig war ihm ebenfalls von Anfang an die „mitreißende Spielweise“ eines Teams, um verehrungswürdig zu sein. In Anlehnung an die Sichtweise des ehemaligen argentinischen Nationaltrainer César Luis Menotti verortet Cohn-Bendit „linken Fußball“ da, wo offensiv gespielt wird und Fußball noch „Abenteuer“ ist. Also etwa so, wie einer seiner ersten Lieblingsvereine Stade Reims es in den 1950er Jahren praktizierte.

Den gestiegenen Einfluss von Investoren sieht Cohn-Bendit nur dann kritisch, wenn sie die den Fußball als Teil ihrer „Karriereplanung“ betrachten, wie zum Beispiel Silvio Berlusconi in den 1980er Jahren, oder wenn undemokratische Staaten wie Katar oder China damit ihre Macht demonstrieren und ihren Einfluss vergrößern wollen. Seine Aussage bezüglich der Situation in Deutschland, das „von derlei Auswüchsen bislang weitgehend verschont geblieben“ ist, zeugt allerdings von wenig Sachkenntnis. Kein Wort zum Modell RB Leipzig und dessen Hintermann Dietrich Mateschitz, kein Wort zur TSG Hoffenheim und dessen Mäzen Dietmar Hopp.

Wesentlich klarer sieht Cohn-Bendit jedoch das Verhältnis von Fußball und Politik und erteilt der Aussage von FIFA und IOC, dass beides nichts miteinander zu tun habe, eine klare Absage. Sport im Allgemeinen und Fußball im Besonderen war für ihn schon immer wesentlicher Bestandteil des politischen Geschehens – und ist es noch heute. Genauso deutlich wendet sich Cohn-Bendit gegen Korruption in den Fußballgremien und das Absahnen der Berater. Er befürchtet, dass der Fußball in Zeiten des globalen Kapitalismus „an die Wand fahren wird“, wenn nicht gegengesteuert wird.

Doch die eigentliche Zukunft des Fußballs sieht Cohn-Bendit im Frauenfußball. Insbesondere schätzt er das weitaus fairere Spiel, den besseren Spielfluss und die größere Dynamik. Doch wie genau die Zukunft des Frauenfußballs aussehen soll und wie eine ähnliche Durchkapitalisierung wie bei den Männern vermieden werden kann, lässt Cohn-Bendit offen.

Seine politische Biografie streift Daniel Cohn-Bendit nur am Rande. Dass er im Mai 1968 als einer der Anführer der mitunter gewalttätigen Auseinandersetzungen an den Pariser Universitäten Nanterre und Sorbonne war und anschließend aus Frankreich ausgewiesen wurde, die Gründung des Frankfurter Stadtmagazins Pflasterstrand, sein Engagement bei den Grünen – all das rückt gegen den Fußball in den Hintergrund. In den Vordergrund rücken jedoch seine vielen über die Jahre aufgebauten Bekannt- und Freundschaften. Ein Sachverhalt der  an ein überdosiertes Namedropping erinnert und mitunter nervt.

Daniel Cohn-Bendit lief selbst viele Jahre, unter anderem im Frankfurter Ostpark, dem Ball hinterher, oder stand im Tor. Glaubt man Autor Heipe Weiss, der mit „Fuchstanz“ ein Portrait der Frankfurter Spontiszene geschrieben hat, spielte Cohn-Bendit (genannt Marcstets fair.  Andererseits galt er als „über-egozentrisch, als Superdiva“, die zudem noch nicht einmal kritikfähig gewesen sein soll. Der fußballverrückte Cohn-Bendit lässt in seiner Biografie gut 60 Jahre Fußballgeschichte an sich und dem*der Leser*in vorbeiziehen: Meist unterhaltsam, mit Leidenschaft, aber auch einem kritischen Blick auf die Fehlentwicklungen des Sports – nur manchmal ziemlich selbstverliebt.

Daniel Cohn-Bendit: Unter den Stollen der Strand. Fußball und Politik – mein Leben, 2020